Was denkt der Nutzer über das Internet?

Ich bin ausgewählt. Als ich den Brief der Stadt Mannheim öffnete und dort etwas von der Zukunft des Internets las, dachte ich zunächst an eine Pressemeldung. Als Technikjournalist erhalte ich ständig Anschreiben zu diesem Thema – meistens jedoch per E-Mail. Und nicht postalisch. Und auch nicht an meine Privatadresse.
Als ich dann weiter las, merkte ich: Es geht gar nicht um meinen Job als Journalist. Ich bin als Bürger Mannheims angesprochen. Ich bin per Zufall ausgewählt worden, um an einem Bürgerdialog teilzunehmen und über die Zukunft des Internets zu diskutieren.
Jetzt stehe ich an einem Samstag um 9:00 Uhr in der Mannheimer Abendakademie am Eingang eines großen Saals. In diesem sind viele kleine Inseln aus Tischen verteilt, an denen schon andere Menschen Platz genommen haben.
Die Dame am Eingang findet meinen Namen auf einer Liste und sagt: „Herr Strehlitz, schön, dass Sie da sind. Nehmen Sie Platz, wo Sie möchten.“
Ich entscheide mich für Tisch Nummer 7. Dort befinden sich schon zwei Männer offensichtlich in einem regen Gespräch. Außerdem scheinen sie auch ungefähr im gleichen Alter wie ich zu sein. Und sie machen einen sympathischen Eindruck.
Ziemlich schnell erfahre ich, dass der eine von ihnen Datenbankadministrator ist. Der andere arbeitet in einer Bank, beschäftigt sich aber privat mit dem Thema – als einfacher Nutzer, wie er sagt.
Außerdem sitzen an meinem Tisch ein Rentner, der früher in einem Technikbereich gearbeitet hat. Und ein Schüler von einem technischen Gymnasium. Die Auswahl der angeschriebenen Bürger mag zufällig gewesen sein. Aber diejenigen, die zugesagt haben, stellen wohl eher keinen repräsentativen Durchschnitt der Bevölkerung dar.

Ich schaue mich um. An den Tischen sitzen immerhin auch Frauen – obgleich der Männeranteil überwiegt. Beim Alter herrscht eine größere Ausgewogenheit. Es sind einige junge Menschen dabei. Und der Rentner an meinem Tisch scheint nicht die einzige Person im Ruhestand zu sein.
Kulturelle Diversität kann ich dagegen nicht erkennen. Der Anteil an Migranten scheint eher gering zu sein – sofern sich dies aufgrund des äußeren Eindrucks überhaupt feststellen lässt.
Immerhin: Kurze Zeit später gesellt sich noch ein Amerikaner an unseren Tisch, der in einer US-Kaserne in der Lagerverwaltung arbeitet. Dazu kommt dann noch junger Mann, der sich als der Moderator unseres Tisches vorstellt.

Input für das Internet Governance Forum

Dann tritt Antoine auf, vielleicht Anfang 40, der uns in perfektem Deutsch, aber mit deutlichem französischen Akzent begrüßt und den Zweck dieses Tages erklärt. Antoine gehört zu Mission Publiques, einem Beratungsunternehmen, das Bürgerdialoge veranstaltet und die Ergebnisse daraus in politische Entscheidungsprozesse einbringt. So verstehe ich das zumindest.
Antoine berichtet, dass 1000 Bürger angeschrieben wurden und vier Prozent zugesagt hätten – was für solche Verfahren eine gute Quote sei. Ein Bürgerdialog wie der unsere solle außerdem noch in vier weiteren Ländern durchgeführt werden – in Frankreich, Brasilien, Uganda und Bangladesch. Die Ergebnisse sollen dann in das Internet Governance Forum eingebracht, das Ende November in Berlin stattfindet.

Bevor wir loslegen mit den Diskussionen, gilt es erst mal zu klären, nach welchen Regeln wir diese führen wollen. An jedem Tisch wird nun besprochen, welche Vorstellungen jeder Teilnehmer dazu hat. Jeder beantwortet Fragen wie „Was wäre wichtig für eine gelungene Diskussion?“, „Was müsste passieren, damit man den Tag als nicht gelungen empfindet?“.
Alle Tischen kommen unter dem Strich zu den gleichen Ergebnissen: Jeder der hier Anwesenden wünscht sich respektvolle und offene Diskussionen, in denen die Meinung des anderen toleriert wird. Jeder soll ohne Angst zu Wort kommen. Und die Diskussionen sollen beim Thema bleiben.
Eines vorneweg: In den kommenden Stunden werden diese Regeln weitestgehend eingehalten werden. Es wird eine meiner positivsten Erfahrungen dieses Tages sein, dass auch in diesen hysterischen Zeiten wildfremde Menschen an einem Tisch sitzen und respektvoll miteinander diskutieren können.

Die Bedenken sind allgegenwärtig

Dann kommen wir zur Sache. Zunächst geht es um die Frage, wie jeder von uns das Internet im allgemeinen und bestimmte Anwendungen wie Whatsapp oder soziale Medien nutzt. Wie oft surft man durch das Internet? Könnte man ohne das Internet leben?

Doch mit solchen grundlegenden Fragen halten sich die Leute an meinem Tisch gar nicht auf. Obwohl danach noch gar nicht gefragt wurde, kommen  die Risiken und Nebenwirkungen des Internets zur Sprache. Der Banker spricht über die persönlichen Daten, über die Nutzer keine Kontrolle mehr haben und die missbraucht werden. Der Rentner spricht von falschen Meldungen, die über Webseiten und andere Kanäle verbreitet werden.
Im Laufe des Tages wird klar, dass alle die Möglichkeiten des Internets gerne nutzen, aber die Sorgen über die negativen Auswirkungen der Vernetzung groß sind – und von allen im Grunde geteilt werden, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung.
Der Amerikaner an unserem Tisch zum Beispiel fände es toll, wenn seine sämtlichen Gesundheitsdaten zentral verfügbar wären. Er sieht die Chance, dass alle notwendigen Informationen zu einem Patienten für jeden Mediziner bereit stehen und Behandlungen schneller durchgeführt werden können. Der Banker sieht vor allem die Gefahren. Und so entspinnt sich eine Diskussion über NSA, CIA und die Lust von Staaten am Datensammeln.

Der Rentner berichtet, dass er mithilfe des Internets versuche, viele verschiedene Meinungen zu erfahren. Denn ihm fehle manchmal das Vertrauen in die etablierten Medienunternehmen. Außerdem beklagt er die Bezahlschranken, die auf den Webseiten von Zeitungen und Magazinen eingeführt wurden.
Na, wunderbar, denke ich. Kommt jetzt die zur Zeit so beliebte Medienschelte? Aber dann spricht er weiter und erklärt, dass er die vielen verschiedenen Systeme nur für zu kompliziert halte. Könne man nicht ein Credit-System einführen, dass für alle Paywalls gelte?
Ok, denke ich jetzt, der Kulturpessimismus war verfrüht. Es gibt vielleicht doch das Interesse an Qualitätsjournalismus. Und es gibt Leute, die auch bereit sind, dafür zu zahlen.

Technik versus Bildung

Im Laufe des Tages gehen wir weiter durch die verschiedenen Themen. Es geht um digitale Identitäten und Fake-News. Wir diskutieren und füllen Fragebögen aus, in denen jeder einzelne von uns seine Meinung wiedergibt. Am Nachmittag werden die Gruppen durchgemischt. Und es zeigt sich, dass mein Eindruck von der fehlenden kulturellen Diversität unter den Teilnehmern zumindest nicht ganz richtig war. An meinem Tisch sitzt nun ein junger Mann italienischer Abstammung, der Kommunikationswissenschaft studiert hat.
Mit meiner neuen Gruppe diskutiere ich über Falschmeldungen, die über das Internet verbreitet werden. „Was hilft dagegen?“, lautet einer der Fragen. Mit den meisten bin ich der Meinung, dass vor allem Bildung davor schützt.
Das sieht der Berater einer großen Software-Firma, der mit am Tisch sitzt, ganz anders. „Ich glaube nicht, dass Nutzer in der Lage sind, Fake-News zu erkennen – unabhängig von ihrer Bildung“, sagt er. Er setzt auf technische Lösungen, die Falschmeldungen aufdecken und kenntlich machen.

Aber ist nicht die kritische Betrachtung von Nachrichten durch den Nutzer die Grundlage, um das Problem zu lösen? Das fragt sich zumindest der Rest des Tisches und möchte weiterhin an die Macht der Bildung glaube. Wieder entsteht eine intensive Diskussion. Und wieder läuft diese sehr fair ab, jeder lässt den anderen ausreden und hört sich eine Meinung an, die nicht der eigenen entspricht.
Am Ende des Tages formulieren wir Wünsche, die an das IGF übergeben werden sollen. Eine der zentralen Botschaften an meinem Tisch lautet: Wir als Nutzer möchten nicht, dass die wirtschaftlichen Interessen einzelner großer Internetkonzerne über die der Anwender gestellt werden. Alle halten das Internet für eine Erfindung mit großartigen Möglichkeiten. Doch es braucht Regeln, um diese Möglichkeiten nicht durch mangelnde Privatsphäre, lückenhafte Datensicherheit und Fake News zu zerstören.

Ob diese Meinungen und die der Teilnehmer der anderen Bürgerdialoge gehört und Einfluss auf die Ergebnisse des IGF haben werden, bleibt aber bis zum Schluss unklar.
Vielleicht habe ich an diesem Tag die Zukunft des Internets ein Stück weit mitbestimmt. Möglicherweise hatte ich aber nur einen interessanten Tag, an dem ich mit wildfremden Menschen respektvoll nicht immer einer Meinung sein konnte.

Titelbild: Pexels/Pixabay

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